Nahaufnahme von Nanette Pellegrino, einer Frau mit kurzen weißen Haaren und einer schwarzen Brille. Sie lächelt freundlich und direkt in die Kamera. Im unscharfen Hintergrund ist ein heller Raum mit anderen Menschen zu sehen, was eine Gesprächs- oder Gruppensituation andeutet.

Nanette Pellegrino: Warum ein zusätzliches Angebot für LGBTIQ*-Senior:innen gebraucht wird – Ergänzen statt Abgrenzen

Es ist ein vertrautes Bild in Senior:innenrunden berichtet Nanette Pellegrino: Jemand erzählt von den Enkelkindern, vom ersten Schultag, von der Ausbildung, die gut angelaufen ist. Das ist schön, warm und nah – und für viele ein Herzstück des Alltags. Und doch gibt es Menschen, die in diesen Momenten still werden. Nicht, weil sie das Thema stören würde. Sondern weil ihr eigener Lebensweg an dieser Stelle keine passende Geschichte bereithält. Gerade ältere queere Menschen kennen diesen Moment. Das sagt nichts über den Wert des Angebots – aber alles über die Unterschiede unserer Biografien.

Im Gespräch mit Nanette Pellegrino (62) wird das sehr klar. Sie lebt mit ihrer Frau Beate in Bremen-Arbergen. Beate ist bei den Vahrer Löwen aktiv, und beide schätzen die Arbeit dort. „Die Angebote sind super – und für die Mehrheit passen sie genauso“, sagt Nanette. Bingo, Sitzgymnastik, Techniksprechstunde: Das ist wertvoll, niedrigschwellig und gut gemacht. Genau deshalb geht es hier nicht um Kritik. Es geht darum zu erklären, warum zusätzlich ein queeres Angebot sinnvoll ist – nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung. Denn so ähnlich die Formate sein mögen, so unterschiedlich können die Lebensrealitäten sein, die Menschen mitbringen.

Wer heute über 60 ist, hat oft den größten Teil seines Lebens in ganz anderen Rahmenbedingungen verbracht. „Erst in jüngerer Zeit ist offenes Outsein an vielen Orten überhaupt möglich geworden. In den 90ern war es nicht die Regel, als Frau überall zu sagen: ‚Das ist meine Freundin‘“, erzählt Nanette. Sie kommt aus einer katholisch geprägten Familie. Ihr Onkel war schwul – gesprochen hat man darüber kaum. „Ich habe lange gebraucht, mich zu trauen.“ Dieses biografische Gepäck verschwindet nicht einfach. In neuen Gruppen beginnt man häufig wieder bei Null: Sage ich „meine Frau“, bleibe ich neutral, wie viel Privates möchte ich preisgeben? Nicht aus Scham – sondern aus dem Schutzreflex eines langen Lebens. Und aus einem schlichten Wunsch: „Ich bin nicht hier, um zu erklären. Ich kann das mal machen – aber ich habe meine Bedürfnisse.“

In heterodominierten Runden fehlt oft das Vertraute mit queeren Lebensläufen. Das Interesse ist meist freundlich, aber für diejenige am Tisch wird es schnell anstrengend. „Man wird zum Erklärbär“, sagt Nanette. „‚Wie haben deine Eltern das aufgenommen?‘ – So eine Frage kommt früh. Ich bin 62. Ob das wirklich das Erste ist, worüber wir sprechen sollten?“ Es ist nicht böse gemeint. Aber wir sind ungewohnt. Und dennoch: Nicht jeder Nachmittag muss mit Grundsatzfragen beginnen. Manchmal reicht es, einfach zusammen da zu sein, zu erzählen, zu lachen – ohne Bildungsauftrag im Gepäck.

Hinzu kommt ein Punkt, der selten mitgedacht wird: Viele queere Senior:innen sind kinderlos – nicht, weil sie nie wollten, sondern weil es lange kaum möglich war. Die rechtlichen und gesellschaftlichen Hürden der 80er und 90er Jahre waren hoch. Für lesbische und schwule Paare war Elternschaft häufig kein realistisches Ziel. Diese Vergangenheit schreibt sich in die Gegenwart fort. Wenn Gespräche sich sehr lange um Kinder und Enkel drehen, entsteht für manche das Gefühl, nur Zuhörer:in zu sein. Nicht, weil uns queeren Menschen „etwas zu sagen verboten“ wäre – sondern weil unsere Lebensthemen in diesem Moment weniger Platz haben. Stillsein ist dann keine freie Entscheidung mehr, sondern einfach eine Folge von Unterschieden.

Daneben bröckeln mit den Jahren oft die Netzwerke. Menschen ziehen um, werden krank, fahren nicht mehr Auto, verlieren Kraft für weite Wege. Freundschaften aus der Wahlfamilie – jene engen Bande, die lesbische und schwule Biografien getragen haben – dünnen aus. Manchmal verschwindet jemand aus dem Blick, ohne dass es böse gemeint ist. Im Alter passiert es leise und schmerzhaft. Und die queeren Orte von früher – Kneipen, Bars, Treffpunkte – sind weniger geworden. Vieles hat sich ins Digitale verschoben. Für Menschen, die nicht mit Apps aufgewachsen sind, ist das eher eine Wand als eine Brücke.

Vom Problem zur Lösung: Wie wir gemeinsam Räume schaffen

Diesem Mangel an unkomplizierten, erklärungsfreien Räumen wollen wir etwas Konkretes entgegensetzen. Die Idee ist simpel: Wir schaffen ein zusätzliches Angebot, das die spezifischen Lebenserfahrungen queerer Senior:innen von vornherein mitdenkt – und damit den Druck nimmt, sich ständig anpassen oder rechtfertigen zu müssen. Der beste Weg dahin? Wir lernen von denen, die es schon können.

Dass das zusammen mit den Vahrer Löwen passiert, ist ein Glücksfall. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden – wir dürfen einfach ein zweites, passendes Profil aufziehen. Die Löwen wissen, welche Zutaten ein Angebot für Senior:innen wirklich trägt: verlässliche Termine, barrierefreie Räume, kurze Wege und ein herzliches Willkommen, das pünktlich beginnt, wenn der Bus vorfährt. Dieses gesammelte Know-how bekommen wir nicht aus einem Lehrbuch, sondern im direkten Gespräch – von Ehrenamt zu Ehrenamt, von Hauptamt zu Hauptamt.

Natürlich heißt »anpassen« nicht »kopieren«. Ein Chor, der bei den Löwen zum Hit wurde, kann bei uns vielleicht eher ein offener Liederabend werden, weil die Stimmlagen gemischter sind. Die Techniksprechstunde muss nicht erklären, wie man Enkelfotos versendet, sondern wie man ein Pseudonym bei Facebook anlegt oder den Dating-App-Alarm abstellt. Aber das Grundgerüst – Anmeldung, Ablauf, Pausen, Versicherung, Datenschutz – liegt fix und fertig auf dem Tisch. Was uns sonst Jahre des Ausprobierens kosten würde, erledigen wir jetzt mit fünf guten Beratungstreffen und dem wertvollen Satz: »Probiert das so, das hat sich bei uns bewährt.«

Damit können wir sofort in die spannendere Frage springen: Wie gestalten wir Räume, in denen Generationen sich begegnen, ohne sich gegenseitig zu überfordern?

Die Brücke der Generationen – warum beide Seiten gewinnen

Nanette beschreibt ein Paradox, das vielen Älteren vertraut ist: Einerseits tut es gut, einen ruhigen, vertrauten Rahmen zu haben. Andererseits fehlt genau dort manchmal der frische Wind der Jüngeren – jene Neugier, die ansteckt; dieses Lachen, das das Tempo anhebt; die Selbstverständlichkeit, mit der man das Smartphone zückt und nach dem Lied von eben sucht.

Umgekehrt fehlen vielen jungen Queers die Gelegenheiten, echte Lebensgeschichte zu hören. Die CSD-Parolen kennen sie, die Netflix-Serien auch – aber wie es sich anfühlt, 1985 an einer schweren Holztür einer Lesbenkneipe zu klingeln, weil alle Türen aus Sicherheitsgründen verschlossen waren? Das bleibt Theorie, wenn niemand davon erzählt.

Unsere Idee: Angebote in Tandems denken.

Früher & Heute – Erzählcafé

Eine Ältere bringt ein Foto von 1978 mit, ein Jüngerer sein Pride-Selfie von 2023. Jede*r hat fünf Minuten, dann wird getauscht. Am Ende sucht man Gemeinsamkeiten: Was ist geblieben? Was erstaunt?

Update-Werkstatt – Technik, aber beidseitig

Vormittags erklärt die 25-Jährige, wie man Videotelefonie einrichtet. Nachmittags zeigt der 70-Jährige, wie man Nähte flickt oder einen guten Brief schreibt. Können gegen Können – Respekt in beide Richtungen.

Kochen & Kramen – Rezepte über die Zeit

Ältere wählen ein Gericht, das sie zu WG-Zeiten für acht Leute gekocht haben. Jüngere bringen eine vegane Variante mit. Gemeinsam schnippeln, probieren, plaudern über Gut-und-Günstig-Tage und über Lieferando-Bequemlichkeiten.

Solche Formate brauchen nicht viel; sie brauchen nur interessierte Menschen, die es möglich machen.

Damit aus “dabei” ein “gemeinsam” wird

Wozu das alles? Damit aus „dabei“ ein „gemeinsam“ wird. Damit Menschen wie Nanette nicht nur als freundliche Zuhörerinnen einen Raum verlassen, sondern als Erzählerinnen ihrer eigenen Gegenwart. Damit jüngere Menschen erleben, dass „Community“ mehr ist als ein Wort in Bios – es ist eine Praxis des Hinhörens, Anpassens, Lernens. Und damit wir als Szene zeigen, dass Solidarität nicht nur in Farben, sondern in Taten leuchtet.

Am Ende bleibt die Einladung schlicht: Wir fangen nicht bei Null an – wir bauen auf Erfahrung. Wir lernen, was trägt, und passen an, wo es klüger ist. Wir schaffen Orte, an denen man die Jacke ablegen kann, ohne zuerst zu erklären, wer man ist. Und wir lassen Generationen so aufeinandertreffen, dass beide reicher nach Hause gehen.

Wenn das gelingt, ist ein zusätzlicher Tisch kein Sonderwunsch – sondern das fehlende Stück in einem Raum, der für alle gedacht ist.

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